In Zeiten von Billigflügen, von durch stetem Autobahnausbau beschleunigtem Individualverkehr und von Fernbus-Hype steht das Verkehrsmittel Zug in der öffentlichen Wahrnehmung im sprichwörtlichen Eck. In den Blickpunkt rückt die Bahn, wenn der ÖBB-Vorstand plötzlich Bundeskanzler oder die Höhe der staatlichen Subventionen mal wieder publik wird.
Logisch, dass das Wahrnehmungsmuster bei Bahnhöfen ähnlich gestrickt ist. Die Flüchtlingswelle im Sommer 2015 konnte über die Wiener Bahnhöfe, im Speziellen den Wiener Westbahnhof, dank der vielen Freiwilligen in geordnete Bahnen (sic!) gebracht werden. Für viele, die sich vor Ort engagierten, war es wahrscheinlich nach Langem der erste Bahnhofsbesuch mit dem zusätzlichen Aha-Erlebnis, welche geballte Emotionsladung mit banalen Lautsprecherdurchsagen wie „Zug fährt ein“ oder „Zug fährt ab“ verbunden sein können.
Dabei sind diese Gefühlswelten des Willkommen-Heißens oder Abschied-Nehmens etwas originär Bahnhof-Inhärentes, mit all den vielen Tränen, die vergossen werden, und dem Taschentuch-Zücken, dem freudigen oder traurigen Winken von Armen, die auf Bahnhöfen nach oben gestreckt werden. Wer in Filmen Abschiedsschmerz oder Willkommensfreude gekonnt ins Szene setzen möchte, tut dies meist auf Bahnhöfen, auf Bahnsteigen, beim Fahrkartenschalter. Dass zur Illustration einer derartigen Emotionswelt ein Auto die Autobahnauffahrt hinaufdüst oder der Fernbusfahrer fragt, wie viele Gepäckstücke denn verstaut werden müssten, ist noch eher selten. Auch die Darstellung eines Flughafen-Check-ins mit normierter Handgepäck-Größentest-Vorrichtung kommt diesbezüglich nur in Ausnahmefällen vor. Noch, denn, wie gesagt, die Realität wird es notwendig machen, dass sich Filmemacher neue Bilder aneignen, die in Folge dazu dienen müssen, Rezipienten sich selbst erkennen zu lassen.
Waren städtische Bahnhöfe früher doch auch Umschlagplätze für Urlauber, so sind sie das heute vor allem für die Pendlerbrigaden aus dem ländlichen Umfeld, wo der Traum vom halbwegs leistbaren Eigenheim im Grünen erfüllt wird. Die Jobs bleiben allerdings weiterhin urban determiniert. Zugfahren stellt somit unausweichlich eine attraktive Verkehrsalternative für all diejenigen dar, die die Radio-Meldungen mit exakter Stau-Lokalisierung nicht als integrativen Bestandteil ihres täglichen Arbeitstagrituals akzeptieren möchten.
„Schnell und komplikationslos hin, schnell und komplikationslos retour“. Diese Einstellungs-Prämisse des Zugreisenden 2.0 bestimmt auch die zeitgenössische Architektur von Bahnhöfen. Das Gastronomie-Angebot war beispielsweise am seinerzeitigen Wiener Südbahnhof, sagen wir, doch überschaubar. Wer nicht unbedingt musste, tat sich Gulasch, Frankfurter und Spritzwein in Gesellschaft bisweilen verhaltensorigineller Co-Kundschaft als Wartezeitüberbrückung nicht an. Das - also das Verpflegungs-Offert - hat sich am neuen, im Dezember 2015 umfassend in Betrieb genommenen Wiener Hauptbahnhof doch gewaltig geändert.
Zug-Pendler sind „to go“ - oder oft vielmehr „on the run“ - und wollen „to go“ verköstigt werden. „90 Geschäfte, Gastronomie- und Dienstleistungsbetriebe laden auf 20.000 m2 Fläche zum Verweilen ein“, heißt es in einer Bewerbung des neuen Wiener Hauptbahnhofs. Die Muße fürs entspannte Verweilen wird für Pendler und Reisende limitiert sein. Aber der neue Wiener Hauptbahnhof will ja mehr sein als es der alte Wiener Südbahnhof je sein wollte und konnte. Seine Macher sehen ihn vielmehr als „Mobilitätszentrum“, als einen Verkehrsknotenpunkt, um den herum ein komplett neues Stadtviertel mit Büros und Wohnungen sukzessive wächst, blüht und gedeiht.
Mit dem Bahnhof im klassischen Sinn, der für Reisende immer auch einen Aufbruch in etwas Ungewisses symbolisierte, hat das nur mehr wenig zu tun. Ferndestinationen wie Venedig, Rom, Prag oder Budapest sind via Smartphone mit dem Wisch & Weg-Prinzip in Echtzeit transparent: Das Wetter dort? 23 Grad, sonnig, leichter Wind aus Südwest. Hotelzimmer im Stadtzentrum? Buch‘ ich sofort über die App. Die Geliebte vor Ort? Skype zeigt sie mir zu Hause. Fürs Treffen am Bahnsteig wird sie sich – hoffentlich - noch die Haare machen.
Der „digital native“ vermeidet Überraschungen, nicht nur in seiner Reiseplanung. Daher schaut auch der Wiener Hauptbahnhof so aus, wie man sich eben heutzutage ein „Mobilitätszentrum“ erwartet. Mit all den ewig gleichen Systemgastronomen, Supermarktfilialen, Drogerieläden, Textilhändlern und Backwaren-Outlets. Das ist schon okay so, das muss wohl so sein. „Die Zeit vergeht, und wir vergehen in ihr“, wurde Elfriede Jelinek mal zitiert, wenn ich meinem bereits leicht vergilbten, studentischen Notizblock Glauben schenken mag. Und sie sagte das deutlich bevor es die Timeline bei facebook gab.
Der Wiener Hauptbahnhof ist schön zeitgemäß, modern, praktisch: „Von keinem anderen Ausgangspunkt in Wien sind – dank Hauptbahnhof, den innerstädtischen Verkehrsmitteln und der Anbindung an den Flughafen Wien – Reiseziele in Österreich, Europa und der ganzen Welt schneller erreichbar“ (Imagebroschüre).
Die pure Reisephilosophie, Ab- und Anreise ohne Freizeit- und Erlebniswelt, die mit dem Südbahnhof verbunden war - seine Urform stammte als Gloggnitzer bzw. Raaber Bahnhof aus den Jahren 1841 bzw. 1845 - , scheint Lichtjahre her. An sie erinnert nur noch der venezianische Markuslöwe in der Eingangshalle des neuen Hauptbahnhofs. Dieser steinerne, eine Tonne schwere Löwe ist einer von acht Exemplaren, die 1874 an die Fassade des Südbahnhofs platziert worden waren. Jene Tierskulpturen sollten die Fahrgäste, die über Laibach und Triest nach Venedig reisten, grüßen. Müsste man heute eine Symbolik finden, wäre es wohl ein möglichst großformatiges Plakat mit nichts als dem QR-Code des Fremdenverkehrsamtes der Lagunenstadt.
Apropos Lagunenstadt Venedig: In Vor-Digitalisierungs-Zeiten wurde am Markusplatz ohne Handy gewiss anders fotografiert.