Der Schriftsteller Frank Goosen erinnert sich in der „Zeit“ (15/2015) an seine Abiturfahrt nach London in den 1980er Jahren
Nach den Rauchern werden demnächst Menschen, die alkoholischen Getränken zusprechen, mit Warnhinweisen, die auf ihr frevelhaftes Tun Bezug nehmen, konfrontiert. Geht es nach der Mehrheit der EU-Parlamentarier sollen zukünftig insbesondere Schwangere und Autofahrer auf die Folgewirkung von reichlich Bier- oder Weinkonsum aufmerksam gemacht werden. Diese legislative Initiative zeichnet ein Bild, das den Menschen als mehrheitlich doch vernunftgesteuertes Wesen rechtschaffen negiert.
Daher nimmt die Zahl an Verboten, Auflagen und Kennzeichnungsvorschriften sukzessive zu. Alles muss geregelt und jeder geschützt werden. Eigenverantwortung existiert anscheinend nicht. Doch selbst der größten Dumpfbacke ist aufgrund verschiedener Sozialisationsinstanzen auch ohne Warnhinweise bewusst, dass ein veritabler Dauerrausch a) gesundheitsschädlich und b) nicht wirklich zur Lenkung eines Autos befähigt. Was kommt als Nächstes? Zu empfehlen ist eine Höchstabgabemenge für Schokolade, denn wirklich niemand weiß, dass zu viel Süßes ohne entsprechenden Bewegungsausgleich kugelrund macht. Auch künftige Kartoffelchips-Werbung ist ohne den entscheidenden Vermerk „Übermäßiger Genuss kann möglicherweise zu überdimensionaler Bauchbildung führen“ eigentlich undenkbar.
Dieser mit Verve verfolgte politische Regulierungswahn beweist außerdem trauriger Weise die herrschende Ohnmacht bezüglich wirklich großer Gegenwartsthemen: Wie will zum Beispiel die Mehrheit der EU-Parlamentarier rasch verhindern, dass aktuell noch ein paar Tausend Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken? Wie kann das Flüchtlingsdrama, wie die Einwanderungsproblematik gelöst werden?
Antworten darauf werden so rasch nicht folgen. Dazu bedarf es Mut, Prioritäten zu setzen und wahrscheinlich auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen. Das hat mit Verantwortung übernehmen zu tun und müsste dazu führen, sich nicht länger aktionistisch mit neuen Bevormundungsprojekten zu befassen und damit weiterhin Realitätsverweigerung zu betreiben. Da lebt es sich in der Komfortzone zwischen Gurkenkrümmungsverordnung und Alkoholwarnhinweisrichtlinien doch deutlich bequemer.