Der Fußballausflug in die Nachbarschaft wurde von mir über Springer Reisen organisiert. Er bestand aus Bus plus Eintrittskarte, also Fahrt nach Florenz zum Spiel Österreich gegen die Tschechoslowakei in der Früh, Rückkehr am Abend, prompt nach Matchende. Mein Freund Siegfried J. und ich hatten mit dem Reisebüro vereinbart, dass wir in Arnoldstein, vor der italienischen Grenze, zusteigen würden. Das taten wir dann auch. Ein Kleinbus machte für uns um sieben Uhr früh Halt. Der große Bus mit dem Gros der Fans war, wie wir hören sollten, schon vorausgefahren. Wir bildeten also die Nachhut.
Beim Öffnen der Busschiebetür wünschten uns sechs lustig aufgelegte Kärntner, die eine Mischung aus Bierduft und Zigarettenrauch ins Freie strömen ließen, herzlich „Guten Morgen!“. Es wurde noch heiterer. Der Busfahrer, falls er denn einer war, dürfte kurzfristig eingesprungen sein. Er fuhr scheinbar auch zum ersten Mal ins Ausland, Florenz jedenfalls lag für ihn definitiv auf unbekanntem Terrain. Er machte seinen Job sehr behutsam, wir waren mit geschätzten 70 km/h Durchschnittstempo unterwegs. Irgendwann am Nachmittag gelangten wir zum Florentiner Stadion.
Der Busfahrer nahm eine Namensliste zur Hand. Alle Reisenden erhielten beim Verlassen des Busses ihre Eintrittskarte. Alle, bis auf Siegfried J. und mich. Unsere Tickets befanden sich im anderen Bus, der allerdings nicht bei uns in der Nähe parkte. Handys gab es 1990 nicht, zumindest keines für unseren Busfahrer. Sein Achselzucken auf unsere Karten-Urgenz hin ließen wir uns allerdings nicht gefallen, sondern zwangen ihn, bei den diversen Schwarzmarkthändlern vor dem Stadion für uns tätig zu werden. Das erste Matchticket kaufte der Busfahrer von einem Amerikaner. Dieser wurde von ihm dann mehr oder weniger gewaltsam festgehalten, um sicher zu gehen, dass es sich bei dieser Eintrittskarte um keine Fälschung handelte. Um die Probe aufs Exempel zu machen, entwertete ich sie am Eingangs-Drehkreuz und verschwand auf der Tribüne, im Blickwinkel, dass der amerikanischen Schwarzhändler sodann in die Freiheit entlassen wurde, und meinem Freund kurz zuwinkend.
Der bekam ein weiteres Schwarzmarkt-Ticket und saß ebenfalls im Stadion. Irgendwo. Ich hatte unseren gemeinsamen Rucksack und daher Bargeld für Getränke dabei. Es war heiß in Florenz. Und es dauerte noch rund zwei Stunden bis Spielbeginn. Schöne Sch… Das betraf letztlich auch den Spielverlauf. Toni Pfeffer misslang ein Rückpass zum österreichischen Tormann Klaus Lindenberger. Der heranstürmende Tschechoslowake wurde von ihm im Strafraum gefoult. Ein Tschechoslowake verwandelte den Elfmeter sicher. Ich saß traurig inmitten von neutralen, daher emotionslosen italienischen Zuschauern. Es blieb beim 0 zu 1. Österreich schied frühzeitig aus dem WM-Turnier aus.
Die gute Nachricht: Siegfried J. war zwischenzeitlich nicht verdurstet, ich traf ihn nach Matchende beim Kleinbus wieder. Unsere bei der Hinfahrt so optimistischen, feucht-fröhlich gestimmten Kärntner Gefährten waren verstummt, die rot-weiß-rote Farbe in den Gesichtern verschmiert, zu viel Schweiß, zu viele Tränen, zu viel Bier. Die nächtliche Rückfahrt mit dem weiterhin nicht ortskundigen Busfahrer dauerte circa 12 Stunden. Irgendwann in der Früh fielen wir aus dem Kleinbus und direkt in die Arnoldsteiner Betten. Ein schöner WM-Ausflug, den ich ob der Begleitumstände nie vergessen werde.
Seither ist viel passiert. Die Fußball-WM ist noch kommerzieller geworden. Sie kostet Gastgeber Russland 10 Milliarden Euro und bringt der Fifa allein 1,7 Milliarden Euro an Sponsorengeldern. Es gibt oder gab Korruption. Über die Wahl des Austragungslandes lässt sich redlich streiten. Was geblieben ist, ist die Freude der Zuseher im Stadion und vor den Fernsehschirmen über dieses mächtige Spektakel, über dieses große Kino der Nationen. Auch ich reihe mich hier gerne ein. Wer gewinnt, ist mir herzlich egal. Gleichzeitig freue ich mich, wenn es im Spätsommer in den europäischen Top-Ligen wieder losgeht. Denn mehrheitlich richtig guten Fußball zu sehen, gibt es ja bei keiner Fußball-WM. Dafür sind die Stars nach einer langen Saison zu ausgelaugt und müde, die Mannschaften klarer Weise zu wenig eingespielt. Aber die friedliche Event-Euphorie mit all ihren hysterischen, absurden Begeisterungsstürmen zu verfolgen, das hat schon was und macht durchaus Spaß.