Den treuen Fans von Aston Villa und Everton für die Liebe zu ihren Klubs gewidmet:
„Hinter uns sind die, die keiner mag. Und vor uns die, die jeder Trottel liebt. Nur wenn du was isst, wirst du groß und stark, und wer weiß, wann es wieder etwas gibt. Wisch dir auch die Hände ruhig ab an meiner Jacke, die ist robuster als du denkst. Ich gebe meinen rechten Arm dafür, wenn du mir nur einmal noch ein Lächeln schenkst.“
Element of Crime: Wenn der Wolf schläft, müssen alle Schafe ruhen (2014)
Vier Fußball-Großvereine liegen im Einzugsgebiet von Birmingham: Aston Villa, Birmingham City, Westbromwich Albion und die Wolverhampton Wanderers. All deren historischer Glanz mit zahlreichen Meistertiteln und Cup-Triumphen ist längst so abgebröckelt wie der industrielle Glanz der Stadt. Villa spielt seit einigen Jahren gegen den Abstieg aus der Premier League, Westbromwich Albion taucht immer wieder ganz oben auf und dann rasch wieder ab. Gleiches gilt für die Citizens oder die Wolves, die vergangene Saison sogar in der drittklassigen League One weilten, nun aber doch zumindest wieder zweitklassig sind.
Der Grund, warum das so ist, sitzt mir im Zug personifiziert gegenüber, ist etwa acht Jahre alt, trägt das nagelneue Arsenal-Auswärtstrikot und reist mit seinem Dad zum Auswärtsspiel der Gunners in den Villa Park von Aston Villa. Der Zug kommt, wie gesagt, aus Manchester und nicht aus London.
In der Wirtschaft nennt man es Markenstärke, wenn es ein Produkt schafft, einen besonderen Reiz auf die Kundschaft auszustrahlen und dadurch ein spezielles Image zu vermitteln. Ruhm und Anziehungskraft sind es, was der Nordlondoner Fußballklub, jedes Jahr Stammgast in der Champions League, mit Stars wie Mesut Özil, Alexis Sanchez oder Santi Cazorla ausstrahlt. Das gefällt dem kleinen Jungen mir vis-a-vis. Er wird sich wohl nie ein Aston Villa-Shirt überstreifen, denn dort spielen bis auf weiteres die Herren Guzman, Weimann oder Agbonlahor, bisweilen recht passabel, aber never ever in der oder mit Aussicht auf die Champions League. „Glory“ gibt es beim Klub in Birmingham nicht oder nicht mehr.
Das wird auch im Villa Park deutlich. Ein altehrwürdiges, richtig schönes Fußballstadion. Aber eben altehrwürdig. Überall historische Verweise. Dass etwa Aston Villa Gründungsmitglied der englischen Liga gewesen ist, wird mit einer überlebensgroßen Statue des damals dafür verantwortlichen Herrn William McGregor vor dem Stadion deutlich. Am North End finden sich auf einem riesengroßen Transparent am Dachfirst die Sätze, die Fernseh-Kommentator Brian Moore fand, als das entscheidende Tor fiel, das Aston Villa zum Europapokalsieger der Meister kürte: Oh, it must be…It is… Peter Withe!“ Das war 1982, Gegner waren die Münchner Bayern.
32 Jahre später macht Arsenal im Villa Park zwischen der 28. und 30. Minute binnen 200 Sekunden drei Tore. Game over. Die Londoner sind eine Klasse stärker, das Team aus Birmingham ist um Schadensbegrenzung bemüht. Für Heimfans und Neutrale wird es fad. Nach einem Spieldrittel sind nur noch die Auswärtsfans hörbar Der junge Mann aus dem Zug wird sich gemeinsam mit seinem Dad trotz Fadesse gefreut haben: einmal seinen Arsenal-Stars live so nahe gewesen zu sein.
Einen Weltstar hat, rund 170 Kilometer weiter nördlich, ein anderer Traditionsverein diese Saison in seinen Reihen: Samuel Eto’o stürmt für den FC Everton, den kleinen, jedoch älteren Bruder des FC Liverpool. Der Kameruner hat einen Einjahresvertrag bekommen und soll den Zauber der großen Fußballwelt in den Goodison Park bringen. Er steht heute gegen Crystal Palace erstmals in der Startelf. Goodison ist Villa Park-like: Tolles Ambiente, man riecht quasi den Duft von Fußballhistorie und –tradition an jeder Ecke.
Wenn zuvor schon von Marken die Rede war. Das Branding beim FC Everton ist 1A. Es reicht hinein bis in die Toiletten, wo das in blau-weiß gehaltene Ambiente Fliesen mit dem Wappen und dem Leitspruch des Vereins zieren: Nil satis, nisi optimum. Nur das Beste ist gut genug. Der WC-Besucher möge dazu fähig sein, jenes allzeit zu geben, der Klub ob seiner begrenzten Finanzen und dem Fehlen eines Oligarchen oder Scheichs wohl nicht. Auch Eto’o kann’s nicht richten. Everton verliert gegen Crystal Palace 2:3, für die Südlondoner ist dies der erste Sieg in der laufenden Meisterschaft. Das Publikum – ebenso still und bedächtig wie jenes bei Villa – bleibt gelassen, ist Rückschläge gewohnt. Einer davon ist Ole, ein IT-Experte aus der Nähe von Oslo, der an die vier bis fünf Mal pro Saison nach Liverpool zu seinen „Blues“ fliegt und neben mir im „Soccerbus“ in Richtung Stadtzentrum sitzt. Warum nimmt jemand diese weite, teure Reise auf sich, um einen Klub, dessen Genese einem ja grundsätzlich fremd ist, zu unterstützen? Ole versteht meine Frage nicht wirklich, verweist auf die wenig attraktive norwegische Fußballliga. Da wird mir bewusst, dass ich mir selbst die gleiche Frage stellen könnte. Warum England, „Home of Football“?
Wahrscheinlich Nostalgie, die verbrämt, dass die Globetrotter der Premier League den erdigen, ruralen, „Hoch und weit“-Fußball um einen sechsstelligen Pfundbetrag pro Woche nicht mehr spielen, sondern Tiki-Taka oder hohes Pressing oder was die neuere Taktikschule halt sonst so hergibt. Selbst Stoke City oder West Ham United versuchen heute einen geordneten Spielaufbau, aber hallo!
Letztlich machen wahrscheinlich nicht die Geschichte, im Sinne von Historie, sondern die immer wieder neu geschriebenen Geschichten den Reiz des englischen Fußballs aus. An dem Wochenende meines Ausflugs in den Villa Park und in den Goodison Park gab es mehrere, hier die drei besten:
In Newcastle liegt die Heimelf gegen Hull City 0:2 zurück, der bei den Fans ungeliebte Trainer Alen Pardew ist damit so gut wie entlassen. 20 Minuten vor Schluss bringt er den Stürmer Papiss Cissé ins Spiel. Der hat seit einem halben Jahr nicht getroffen. Und rettet daraufhin mit zwei Toren das Unentschieden und den Kopf des Trainers.
Aufsteiger Leicester City empfängt Manchester United mit allen Stars, liegt bald mit 0:2 und 1:3 zurück. Beim Stand von 1:3 trifft Falcao für United nur die Querlatte. Leicester dreht das Spiel und gewinnt 5:3. Manchester United gibt nach 853 Premier League-Spielen erstmals einen 2-Tore-Vorsprung aus der Hand. „Man of the Match“ wird ein gewisser Jamie Vardy, Stürmer bei Leicester City, der noch vor vier Jahren bei Stocksbridge Park Steels in der 8. Liga gespielt hat.
Im Schlager Manchester City gegen Chelsea führen die Londoner bis zur 85. Minute 1:0. Dann erzielt Frank Lampard den Ausgleich. Das ist jener Frank Lampard, der bei seiner Einwechslung sieben Minuten zuvor auch von den Chelsea-Fans mit „Super Frank“-Sprechchören gehuldigt wurde, war er doch bis zum Sommer 13 Jahre lang Dreh- und Angelpunkt der „Blues“ gewesen.
Bei allem Finanz-Wahnsinn der Premier League: Die Geschichten des englischen Fußballs sind faszinierend, einmalig, niemals vorherseh- oder gar planbar. Um daran teilzuhaben und diesem Reiz hautnah zu erliegen, bleibt nur das Schlachten des Sparschweins für Flugbuchung und Ticketkauf. Mein nächster Flieger nach London geht am 7. November.